BÜRGERLICHES TRAUERSPIEL
Es ist der Abend der Premiere und der Theatersaal ist schon beinahe komplett gefüllt. Gegeben wird:
"Die goldene Katze", ein Stück, dass im Jahre 1768 das erste mal auf die Bühne kam und der Gattung
des bürgerlichen Trauerspiels zugerechnet wird. Der Regisseur hat sich nach einer anstrengenden
Probezeit und einer komplett misslungenen Generalprobe in die Kantine zurückgezogen und wird sich
die Premiere selbst nicht ansehen, sondern stattdessen, bis der Vorhang fällt, eine Flasche Weißwein
getrunken haben. Es liegt nun in der Hand der Schauspieler.
Überhaupt ist er mit Allem ganz unzufrieden. Eigentlich sollte das Stück in einem Schloss spielen,
doch die Bühnenbildnerin und der Dramaturg haben sich durchsetzen können und das Schauspiel ins
"freie" verlegt. Jetzt steht auf der Bühne ein riesiger knorriger Baum, ein Rad, ein Sack Korn und noch
einiges mehr. Symbole. Genau erinnern will er sich nicht. Zumindest die Kostüme sind weitgehend
historisch Korrekt. Irgendwie gefällt es ihm so, und er ist dem Kostümbildner beinahe dankbar, dass es
diesem komplett an Vision und individuellem Gestaltungswillen zu fehlen schien.
Es wäre ein Fehler gewesen, so hat man es ihm weismachen wollen, so nah am Originaltext zu bleiben
und den tragischen Konflikt zwischen Adel und Bürgertum nicht etwas aus heutiger Perspektive zu
kommentieren. Aber was hätte das schon sein sollen?
Es ist ihm durchaus bewusst, dass das Bürgertum, die Mitte der Gesellschaft, in einer tiefen Krise
steckt, dass der übermäßige Individualismus an seine sozialen und ökologischen grenzen kommt, dass
niemand mehr imstande zu sein scheint, seinen Empfindungen ein angemessenes Gewicht zu geben,
dass die Barbarei kein Ende nimmt. Mithin, dass das Projekt der Aufklärung, dessen Kind das
bürgerliche Theater ja ist, zu scheitern droht, und den moralisch verkommenen, modernen Bürger,
gleich mit sich zieht, in den Abgrund. Wir stehen am Ende einer langen, fatalen Kette.
So etwa hat es ihm der Dramaturg auseinandergesetzt und er konnte nur zustimmen. Doch er hielt an
seiner These fest: Die Mitteilung entfaltet sich aufgrund der vom Autor beschriebenen Situation
durch die Figuren und seltener im Text selbst. Die Arbeit der Schauspieler bestünde in dem
beglaubigenden Nachvollzug aller Facetten des Gefühls. Die Form des psychologischen Schauspielens
reproduziert dabei die bürgerliche Ideologie eines Subjekts, das als Eigentümer seiner Kompetenzen
dennoch niemals Herr im eigenen Haus sein kann. Der unendliche Kampf zwischen der seelischen
Seite und der rational planenden, zwischen dem Instinkt und der Vernunft wird zu einer Art
Anschauung gebracht, in der das Subjekt als eine einzige vergiftete Kostbarkeit erscheint. Und er fügt
hinzu: Brecht sei seine Sache nicht.
Letztendlich hat er seine Kunst selbst nie richtig verstanden und sich immer wieder in Widersprüche
verstrickt. Doch das Theater ist für ihn immer ein Ort des Scheins und der Totalität gewesen und er
hat sich immer redlich bemüht, ehrliche, lebendige Intensitäten nicht nur bei seinem Publikum,
sondern auch bei seinem Ensemble zu evozieren. Und dafür waren ihm beide immer dankbar.
Die innere Unendlichkeit breitet sich wie eine Tränenmeer um die Handlung herum aus… Es ist
soweit. Das Stück beginnt. Durch den Inspizientenlautsprecher hört man noch ganz leise den ersten
Satz: "Ach, Sie weinen schon wieder, schon wieder, Sir.”
Wieland Schönfelder
BÜRGERLICHES TRAUERSPIEL
Es ist der Abend der Premiere und der Theatersaal ist schon beinahe komplett gefüllt. Gegeben wird:
"Die goldene Katze", ein Stück, dass im Jahre 1768 das erste mal auf die Bühne kam und der Gattung
des bürgerlichen Trauerspiels zugerechnet wird. Der Regisseur hat sich nach einer anstrengenden
Probezeit und einer komplett misslungenen Generalprobe in die Kantine zurückgezogen und wird sich
die Premiere selbst nicht ansehen, sondern stattdessen, bis der Vorhang fällt, eine Flasche Weißwein
getrunken haben. Es liegt nun in der Hand der Schauspieler.
Überhaupt ist er mit Allem ganz unzufrieden. Eigentlich sollte das Stück in einem Schloss spielen,
doch die Bühnenbildnerin und der Dramaturg haben sich durchsetzen können und das Schauspiel ins
"freie" verlegt. Jetzt steht auf der Bühne ein riesiger knorriger Baum, ein Rad, ein Sack Korn und noch
einiges mehr. Symbole. Genau erinnern will er sich nicht. Zumindest die Kostüme sind weitgehend
historisch Korrekt. Irgendwie gefällt es ihm so, und er ist dem Kostümbildner beinahe dankbar, dass es
diesem komplett an Vision und individuellem Gestaltungswillen zu fehlen schien.
Es wäre ein Fehler gewesen, so hat man es ihm weismachen wollen, so nah am Originaltext zu bleiben
und den tragischen Konflikt zwischen Adel und Bürgertum nicht etwas aus heutiger Perspektive zu
kommentieren. Aber was hätte das schon sein sollen?
Es ist ihm durchaus bewusst, dass das Bürgertum, die Mitte der Gesellschaft, in einer tiefen Krise
steckt, dass der übermäßige Individualismus an seine sozialen und ökologischen grenzen kommt, dass
niemand mehr imstande zu sein scheint, seinen Empfindungen ein angemessenes Gewicht zu geben,
dass die Barbarei kein Ende nimmt. Mithin, dass das Projekt der Aufklärung, dessen Kind das
bürgerliche Theater ja ist, zu scheitern droht, und den moralisch verkommenen, modernen Bürger,
gleich mit sich zieht, in den Abgrund. Wir stehen am Ende einer langen, fatalen Kette.
So etwa hat es ihm der Dramaturg auseinandergesetzt und er konnte nur zustimmen. Doch er hielt an
seiner These fest: Die Mitteilung entfaltet sich aufgrund der vom Autor beschriebenen Situation
durch die Figuren und seltener im Text selbst. Die Arbeit der Schauspieler bestünde in dem
beglaubigenden Nachvollzug aller Facetten des Gefühls. Die Form des psychologischen Schauspielens
reproduziert dabei die bürgerliche Ideologie eines Subjekts, das als Eigentümer seiner Kompetenzen
dennoch niemals Herr im eigenen Haus sein kann. Der unendliche Kampf zwischen der seelischen
Seite und der rational planenden, zwischen dem Instinkt und der Vernunft wird zu einer Art
Anschauung gebracht, in der das Subjekt als eine einzige vergiftete Kostbarkeit erscheint. Und er fügt
hinzu: Brecht sei seine Sache nicht.
Letztendlich hat er seine Kunst selbst nie richtig verstanden und sich immer wieder in Widersprüche
verstrickt. Doch das Theater ist für ihn immer ein Ort des Scheins und der Totalität gewesen und er
hat sich immer redlich bemüht, ehrliche, lebendige Intensitäten nicht nur bei seinem Publikum,
sondern auch bei seinem Ensemble zu evozieren. Und dafür waren ihm beide immer dankbar.
Die innere Unendlichkeit breitet sich wie eine Tränenmeer um die Handlung herum aus… Es ist
soweit. Das Stück beginnt. Durch den Inspizientenlautsprecher hört man noch ganz leise den ersten
Satz: "Ach, Sie weinen schon wieder, schon wieder, Sir.”
Wieland Schönfelder